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Der Versuch einer Einordnung

Elefanten sind 22 Monate lang trächtig. Das ist die längste Entstehungszeit für neues Leben auf unserem Planeten. Meine Corona-Infektion ist auch 22 Monate her, als ich im September 2023 anfange, diesen Text zu schreiben. Dabei weiß ich nicht, ob ich irgendwann meine Post-Covid-Zeit als pränatale Erfahrung bezeichnen werde. Aber ich fühle mich, als wäre ich unter ziemlich viel Anstrengung in eine Welt hineingeboren, die mir völlig fremd ist, und in der ich seither versuche, mich zurechtzufinden.

Meilensteine im Frühjahr

Dabei sieht vieles von außen betrachtet wieder recht normal aus: Im Februar fahre ich das erste Mal zu einer großen Jubiläumsfeier aus meinem Freundeskreis in der Nähe. Im März kann ich mit auf einen 2tägigen Familienausflug rund um Hannover – und im April schaffe ich es sogar für 3 Tage ins Ruhrgebiet, während ich immer ein kleines bisschen arbeite. Heißt: Wenn man mich punktuell erlebt, falle ich nicht mehr auf. Mir gefällt das. Es ist diese ersehnte erste Stufe einer neuen Stabilität, die sich gegen Ende meines „Marathon im Dunkeln“ von 2022 so sanft und sachte angekündigt hat. Und zwei Monate später kann ich in Einzeldosen endlich wieder Freunde länger zu Besuch da haben. Sowohl mein Bewegungsradius als auch das Social-Contact-Limit hat sich deutlich erweitert – und damit eine Riesenportion Lebensqualität zurückgebracht, mit der ich mich seitdem überhaupt erst wieder als Teilnehmerin des Lebens empfinde. Und ich singe: „Hurra! Tadaa! Jawoll! Ich bin zurück auf dem Spielfeld, ich habe endlich wieder eine Nummer auf dem Rücken.“ Und das ist nach einem Jahr auf der Zuschauertribüne nahezu unerträglich schön. Wenn ich mich darauf besinne, könnte ich platzen vor Glück. FOTO? So, wie in dem einen Moment, als in der Frühlingssonne mein Handy klingelt und der fürsorgliche Anrufer einfach mal hören will, wozu ich heute so in der Lage bin. Ich sprudel drauf los: „Du glaubst nicht, wo ich bin! Zu Fuß unterwegs ohne Notfall-Kissen zum Hinlegen – und die Sonne scheint … das ist kaum auszuhalten, so schön ist das nach allem!“ Ich kann hören, wie mein Anrufer schmunzelt. Und plötzlich muss ich an all die Momente denken, in denen ich an seinem Krankenbett saß und auch da die Zukunft alles andere als gewiss war. Dann sagt er: „Vom Boden kann man eben nicht mehr fallen.“

Zwischen Hoffnung und Wahrheit

Er sagt das so unerhört lapidar gemessen an unseren Erfahrungen, dass wir beide laut loslachen müssen. Es ist eines dieser Lachen, das einem fast im Hals stecken bleibt; ein Lachen der Erleichterung und Befreiung, nachdem man durchs Feuer gegangen ist und der Brandgeruch noch in den Haaren hängt. Man kann es einfach nicht fassen, dass man doch irgendwie durchgekommen ist, um man gerät nach so viel eingeatmetem Kohlenmonoxid über die Selbstverständlich von Sauerstoff schon mal total aus dem Häuschen. Diese Art von Kurzzeitglück lässt die Dankbarkeit in mir bersten. Daher würde ich hier am liebsten aufhören. Schluss machen mit einem rosaroten Cliffhanger und uns Romantiker glauben lassen, dass das nach eineinhalb Jahren endlich das ersehnte Happy-End war. Und einfach nicht über die ganze Wahrheit sprechen. „Aber du musst uns mitnehmen und sagen, wie es ist, sonst verstehen wir das doch gar nicht, wenn du hier so ein tolles Frühstück auffährst“, sagt neulich einer meiner Gäste, als wir in fröhlicher Runde an meinem Esstisch sitzen. Sie wollen alle wissen, wie leicht oder schwer mir das nun gefallen war. Nur ich will das nicht mehr ehrlich beantworten. Weil ich meine eigene Wahrheit nach mühseligen 23 Monaten mittlerweile einfach nicht mehr ertragen kann: dass ich den Einkauf auf mehrere Tage verteilen muss, mir am Tag vorher und nachher kaum was vornehmen darf und direkt nach dem Brunch einen ausgiebigen Mittagsschlaf brauche, weil mich Interaktion in Gruppen so auslaugt; dass ich immer noch mit sehr wenig Kraft auskommen muss und dass das abartig viel Prioritätenplanung und Disziplin braucht; dass ich mich morgens oft nicht gut bewegen kann, weil die Gelenke schmerzen; dass ich mich sofort grippig fühle, wenn mein Körper gegen irgendwas ankämpft, was seit Oktober eigentlich ständig der Fall ist. Und dass ich besagte Ausflüge nur mit streng eingeplanten Liegepausen, streng rationierten Gesprächen und strenger Abschottung von Lärm, Licht und Leuten vorher und nachher schaffe. Foto?

Störmeldungen und Testläufe

Dass das so ist – daran habe ich mich bei allem guten Willen einfach immer noch nicht gewöhnen können, stehe ab und zu fassungslos wie am ersten Tag in meinem anderen Leben und suche nach Beschreibungen, Vergleichen, um mir das Unbegreifliche selbst begreiflicher zu machen. Zum Beispiel so: Was Computer-Kram angeht bin ich zwar echt kein Crack – Verständnis und Verlangen tanzen da bei mir immer um die Nulllinie herum. Was ich aber von einem ehemaligen Admin-Kollegen weiß, ist, dass man tunlichst die Finger von Änderungen am Betriebssystem lassen sollte. Das führt zu nix Gutem. Doch so ist das mit meinen Alltag im Post-Covid-Körper: Es ist, als hätte irgendwer heimlich mein Betriebssystem ausgewechselt. Und seit dem laufen die Programme nicht richtig. Oder so: Wenn ich 13 Monate von einer irren Krankheit ausgeschaltet war, waren die nachfolgenden 12 wie der Kampf um die Genesung. Mit einem Körper wie nach einem Großbrand. Das Feuer ist vorbei – aber wenn dann der Rauch abgezogen ist, sieht man erst das Ausmaß der Verwüstung. Und so wandere ich in den Ruinen meines Lebens herum und klaube meinen eigenen Überreste zusammen. Ich suche nach dem, was das Inferno überstanden hat und starte den schwierigen, langwierigen Wiederaufbau.

Im Halbzeitleben

Dabei berichtete die örtliche Tageszeitung kürzlich in einer großen Long-Covid-Story, dass ich halbtags wieder arbeiten kann. Das las sich so flüssig, garniert mit diesem lebendigen Foto, dass ich das fast selbst geglaubt hätte. Denn nur halbtags arbeiten – einfach herrlich! Davon träumt doch jeder, oder? Wo ist das Problem? FOTO Es ist eher ein Halbtagsleben. Was darin passiert, hängt von der Tagesform und den geforderten Energiemengen der Aufgaben ab. Wenn ich (wenig) arbeiten kann, geht dann häufig nix anderes mehr. Nicht kochen, nicht Freunde treffen, keine Emails, kein Telefonat, kein Spaziergang. Wenn ich dagegen sonst nix leisten muss, kann ich einkaufen, putzen, leichten Sport machen, etwas am Computer arbeiten und kleine Zeiten mit Freunden verbringen. (Satz Evis Pommes) Zumindest 7 Stunden am Tag. Am Anfang waren es nur 2. Den Rest der Zeit sehe ich der Zeit beim Verstreichen zu. Und dabei hatte ich so gehofft – Quatsch, ich war mir total sicher – dass sich das alles zum Sommer hin weiter deutlich verbessert. Aber der war irgendwie auf allen Ebenen verregnet, so dass meine positive Annahme nicht aufging. Die Enttäuschung des Sommers klingt so: Ja, ich bin zurück auf dem Spielfeld. Aber es ist noch kein echtes Punktespiel, es ist doch nur das Anfängertraining. Alles nur halbgar. Ich fühle mich wie eine Retoure, die in der Bei-Nichtgefallen-Geld-zurück-Schleife festhängt. (Pendel) Zwischendrin probiere ich mich in Effizienzlösungen: Ich erledige alles in schnittigen 15-Minuten-Schritten, unterbrochen von wagemutigen Wiederauflademomenten im abgeschotteten Liegemodus. Natürlich wird da nix wirklich fertig und so ein zeitliches Korsett macht mich auf Dauer kirre. Aber da ich mich vom Durchregieren, diesem rasanten In-eins-Rutsch, den Deadlines und Finish-Zusagen schon lange verabschiedet habe, komme ich mir so zumindest mal wieder halbwegs produktiv vor – bin es sogar auch irgendwie, wenn man die Zeitfenster entsprechend dehnt. Ich halte mich mit einer freundlichen Selbstansprache bei der Stange: Annette, morgen ist ein neuer Tag, und wer weiß, vielleicht wird er ja unerwartet famos!

Der Lottogewinn

Und er wurde es. Dieser sonnige Tag im September trifft mich völlig unvorbereitet, als mich eine ebenfalls betroffene Freundin anruft und mir von neueren Forschungsergebnisse zu Post-Covid (korrektes Wording für Long-Covid ab 3 Monaten) erzählt. Ich höre, was sie sagt. Aber ich verstehe nix. „Annette, aktuellen Studien zufolge werden Erwachsene, die länger als 6 Monate an Post-Covid erkrankt sind – mit diversen Symptomen, aber vor allem Fatigue mit PEM – nicht mehr gesund. Die Zahl derjenigen, die es schaffen, liegt im einstelligen Prozentbereich.“ Mein Kopf surrt, mein Körper erstarrt. Das beschreibt mich. Ich habe 22 Monate gegen genau diese Horrordiagnose angekämpft – und jetzt will sie mir sagen, dass ich nicht mehr ganz gesund werde? Weil meine Chance, krank zu bleiben, laut derzeitigen Studien bei über 90 Prozent liegt? Die Wissenschaft hat doch auch nicht immer recht oder weiß in diesem Fall auch noch nicht alles. Also widerspreche ich: „Aber es wird doch besser! Natürlich muss ich zugeben, dass es ewig dauert, aber es gibt doch eine Verbesserung. Ich kann so vieles wieder tun, was letztes Jahr gar nicht ging. Das kann nicht stimmen,“ weigere ich mich ins Telefon hinein. „Ja, eben“ kommt es zurück, „deswegen machst du mir doch so viel Mut.“ Ach, und das findet sie logisch? Nach diesem längeren Telefonat verlege ich meine Auflademinuten an den Steg um die Ecke. Mein Bewusstsein nutzt den Fußweg, um die versteckte frohe Botschaft zu begreifen. Als ich ankomme, macht es gewaltig „klick“ und ich stolpere auf meine Knie. Vor Schreck, vor Glück, vor Ehrfurcht. Denn ich kann nicht fassen, was das bedeutet. Ist gerade passiert, was ich im Dämmerzustand meines Sterbens auf Probe im Winter 21/22 nur noch unbewusst hoffen konnte? Ich bin die Ausnahme der Ausnahme der Ausnahme. FOTO STEG Ich habe die 10 Prozent erwischt, die Long-Covid bekommen. Davon hab ich die 10 Prozent erwischt, die es langfristig so schlimm trifft – und von diesem Restanteil gehöre ich nun zu den 1-9 Prozent, die es geschafft haben? Ok, fast geschafft. Aber ist das denn bis hierher zu fassen? Das ist im Post-Covid-Lotto so was wie der H-a-u-p-t-g-e-w-i-n-n! Selbst wenn die Forschung und solche Aussagen noch lange nicht abgeschlossen sind, ist mir, als stünde ich auf heiligem Boden. Als müsste ich hier und jetzt einen Altar bauen, ein Brandopfer anzünden und meine Schuhe ausziehen. Auf diesem Steg am Wasser. Stattdessen geht ein sprachloser Dank in den Himmel und eine Butterblume schwimmen. Da ist sie wieder, die Hoffnung. Ich fühle mich ermutigt, weiter durchzuhalten und den Rest des Tals auch noch irgendwie zu bewältigen.

Herbstliches Sturmtief

Als ich in meinem früheren Leben noch zwei-dreimal die Woche joggen konnte, habe ich nie für einen Marathon trainiert. Ich wollte Spaß bei moderater Frischluftertüchtigung – keine Selbstquälerei. Aber was ich von ambitionierteren Mitmenschen weiß: Die letztem Kilometer eines Marathons sind angeblich immer die schwersten. Aber das bedeutet eben auch, dass das Ende nah ist. Diese Info wird mir zum Trost, als der Herbst bei mir Mitte Oktober anklopft, um mich fertig zu machen. Ich fühle mich auf einmal wieder richtig mies – und zwar ziemlich durchgehend. Das irritiert mich so, dass ich recht verschreckt alle Post-Covid-Überlebensstrategien checke: Pacing, Nährstoffe, Schlaf. Da ist aber alles ok, und ich verstehe die Welt nicht mehr. Was ist denn jetzt anders? Warum geht es zurück statt voran? Ganz dunkle Gefühle und Erinnerungen aus der Zeit der Auflösung reisen an und es brodelt in mir. „Boah, ist denn nichts besser geworden im Vergleich zum letzten Jahr?“, höre ich meine Ungeduld in mir lospoltern. „Doch, doch“, fängt meine Sarkasmus an zu unken. „Das Allerschlimmste liegt wirklich hinter dir. Jetzt ist es halt nur noch schlimm …“ Aber da grätscht sofort meine Dankbarkeit rein: „Das ist nicht wahr. Ja, es gibt noch Tage, die sind nicht gut, aber doch lange nicht mehr so häufig und so krass. Sieh doch auf die positiven Veränderungen und nicht auf das, was noch hakt. Auf die kleinen Etappensiege und den Lottogewinn, die du dir knallrot mit ausufernden Ausrufezeichen und Superkringeln im Kalender markiert hast.“ Ich versuche das Affentheater in mir zu ignorieren und resümiere: Die schlechten Tage sind lange nicht mehr so schlecht. Und die guten Tage sind deutlich besser. Das ist korrekt. Weil vor allem die lebensraubende Fatigue mit ihren willkürlichen anfallartigen Crahs meinen Körper verlassen hat. Ein gellendes, dreifaches Hurrah dafür! Nur so richtig tröstlich kann ich das in diesen Tagen nicht finden. Denn stattdessen finden es jetzt alle anderen Folge-Symptome, die von diesem körperlichen Stromausfallmodus überdeckt waren, so schön, endlich von mir in all ihrem Facettenreichtum wahrgenommen zu werden, dass sie zur Höchstform auflaufen: kaputte Muskeln und Sehnen, die mir Tennisarm rechts und Impingement links bescheren, Gelenkschmerzen am Morgen, Schwächetief zum Mittag, Grippegefühl am Abend, schlechte Nächte.

Gefährliches Limit

Dieser Rückschlag ist mehr als ich ertragen kann, und ich weine Freunden beim gemeinsamen Mittag fast in ihr Essen. Ich kann ich einfach nicht mehr. Ich kann nicht mehr durchhalten, mir gut zureden, dieses Auf und Ab ertragen. Ich habe weder Kraft noch Willen für noch mehr „Pacing“. Mein emotionaler Widerstand ist aufgebraucht. Dann fallen mir all die Menschen ein, denen es viel schlechter geht als mir – und ich bin noch frustrierter als vorher. Denn mit diesen Tatsachen im Kopf kann ich nicht mal richtig jammern. „Das ist ja nicht auszuhalten“, reg ich mich auf, „nicht mal das kann ich mehr. Verdammte Axt, was ist denn nur los mit mir?“ Meine vorläufige Selbst-Diagnose: Anpassungsstörung an veränderte Lebensverhältnisse. Da hilft es auch so gar nicht, dass sich meine Covid-Infektion zum zweiten Mal jährt und diese Marke auf einem schlechten Tag im November fällt. „Wieder auf die Schnauze gefallen“, denke ich resigniert und werfe mir im Spiegel einen prüfenden Blick zu. Müsste man die Schrammen nicht so langsam mal sehen? Seltsam. Da ist nix. Aber ich erkenne meine völlig verbeulte Selbstbestimmung. Die aufgeschürfte Hoffnung. Den Freiheitsdrang, der sich blutig geschlagen hat an diesem Gegner, der nicht weichen will. Die bodenlose Sehnsucht nach der Selbstverständlichkeit meiner alten Kraft. Sie fehlt mir so, dass ich mich in Erinnerungen verliere, um die Realität zu betäuben. Ich fliehe in die Vergangenheit, denn in die Zukunft kann ich nicht. Da herrscht das blanke visionäre Vakuum. Diese neue Erkenntnis versetzte mir einen Riesenschreck. „Aufpassen, Annette“, bekommt mein Spiegelbild plötzlich zu hören, „nicht, dass du noch umkommst vor Liebeskummer, weil dir dein Leben so fehlt. Vielleicht nimmst du dir mal ne Auszeit vom ganzen Aushalten und gönnst dir ein bisschen Abstand? Dann geht das mit dem Träumen sicher auch bald wieder.“ Ich starre zurück. Das Echo der Worte hallt in mir nach und mir fällt ein, was Viktor Frankl in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“ beschreibt: Viele seiner Mitinsassen im KZ waren davon ausgegangen, Weihnachten 44 wieder zuhause zu sein. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. In der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr gab es in den Baracken ein Massensterben.

Der Blick nach unten

Während ich diese Verschaltung meines Gehirns befremdlich finde, kann ich plötzlich genauer sehen, was mein Problem ist: Ich wollte nach 2 Jahren gesund sein. Ich wollte nicht die Hälfte behalten. In meinen schlimmsten Träumen hätte ich nicht gedacht, dass ich nach 2 Jahren (ich buchstabiere: z-w-e-i J-a-h-r-e-n) immer noch nicht bei alter Gesundheit bin. Und ja, diese Enttäuschung katapultiert mich direkt an den Rand der Hoffnungslosigkeit. Es war eine terminierte Hoffnung, eine falsche, und jetzt klafft der Abgrund vor mir. Aber wo ich eh schon hier an der Kliffkante hänge, wage ich es kurz, hinunter zu spähen: Da tummeln sich die Zweifel, die Resignation, die Vorstellung, dass das für den Rest meines Lebens so bleibt. Sie fletschen ihre Zähne und übertreffen sich gegenseitig in ihrem Gebrüll. Dort unten ist finster und kalt, Fäulnis wabert hoch. Angewidert wende ich mich ab. Selbst wenn ich überhaupt nicht beweisen kann, dass sie alle falsch liegen – ich ersticke an ihrer Ausstrahlung. Das ist doch keine ernstzunehmende Alternative zur Hoffnung. Aufgeben ist einfach ausgeschlossen. Also glaube ich wieder. Warum auch nicht? Genau. Wieso sollte es nicht wieder besser werden können? Das weiß auch noch keiner, also könnte es genauso gut so sein. Vielleicht dauert es noch ein weiteres Jahr. Aber das könnte ich auch noch schaffen, immerhin habe ich zwei schon hinter mir – und dafür verleihe ich mir höchst inoffiziell selbst einen Orden. „Die letzte Strecke ist die schwerste …“, hallt es in mir nach und ich lasse mich auf dem Rücken seiner versteckten Hoffnung von der Kante zurück auf die Zielgerade tragen.

Das Weihnachtswunder

Die einzige Sache, die mich jetzt noch interessiert, ist: Was kann ich tun, damit ich leichter durchkomme als die letzten Monate? Glücklicherweise weiß ich sofort, was die Antwort ist. Meinen Zustand kann ich zwar nicht ändern, aber ich kann was an den Umständen schrauben. Quasi dasselbe nur anderswo, unter für mich besten Bedingungen. Und die wären: Wärme, Meer, Vollverpflegung und Zeit für die Lust am Schreiben. Ich höre meinen Sehnsuchtsort am anderen Ende der Welt nach mir rufen und damit ist es schon entschieden: Ich nicke, und der Flug ist gebucht. „Hahahaaalt, nicht so hastig! Bist du denn jetzt völlig irre geworden? Wie willst du das denn finanzieren“, springt meine Vernunft im Dreieck und der innere Finanzminister legt nach: „Darf ich dich daran erinnern, dass du gerade zwei Jahre lang nahezu kein Einkommen generieren konntest? Es gäbe wirklich günstigere Zeitpunkte für solche Art von kostspieligen Kamikaze-Impulsen. Und dann auch gleich noch sechs Wochen!“ „Zu spät“, meldet sich mein Bauch, „Ich habe nicht dafür diesen Wahnsinn durchgestanden, dass ich jetzt kurz vor dem Ziel draufgehe. Das hier ist meine unantastbare Rettungsaktion und ihr, ihr haltet jetzt besser die Klappe, falls ihr mich abhalten wollt. Irgendwie geht das schon.“ Zur Deeskalation versammel ich alle inneren Stimmen am runden Tisch, um meine Idee zur Problemlösung diskutieren zu lassen. Als alle Pros und Cons zu Peinlichkeit, Demut, Mut, Hilfsbereitschaft, Liebe, Verletzlichkeit und Vertrauen ausgetauscht sind, habe ich alle im Boot. Mein erster Fundraising-Versuch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis steht – und jetzt heißt es abwarten, was geschieht. Die ersten Benachrichtigungen in meinem Postfach, dass Spenden eingehen, überfordern mich völlig mit dem ganzen Adrenalin, Endorphin und Oxytocin. Und am 23.12. sehe ich dann das, was ich ausdrucken, mit Schleife versehen und mir selbst unter den Weihnachtsbaum legen muss: (Foto)

Nächste Station: Zukunft

Heute ist der 1.1.24 – und mein 2024 beginnt für mich mit einem sehr persönlichen Wunder nach einem federlassenden Jahr in einer chaotischen Welt, die sich an so vielen Orten so furchtbar grausam, gewaltvoll, laut und hasserfüllt zeigt. Aber das Wunder der Menschlichkeit, der Zuneigung, Großzügigkeit, Liebe, Freundlichkeit, des Mitgefühls und der tatkräftigen Unterstützung hat es schwarz auf weiß bis in mein Wohnzimmer geschafft. Dass mich das berührt, sprachlos und dankbar macht, ist reine Untertreibung. Denn es ist nicht bloß die Summe, die mich überwältigt. Es ist das Wissen, dass mir damit Raum für Genesung, Erholung, ruhigen Nachtschlaf und die Chance auf ein Buchprojekt geschenkt wird. So etwas zu erleben, Menschen in meinem Leben zu haben, die das möglich machen, ist ein unbeschreiblicher Segen. Ich bin mir sicher, dass das eine weitere Geschichte wird, die ich erzählen werde, wann immer in meinem LernRAUM daran gearbeitet wird, Mut zu entwickeln und Neues zu versuchen, um weiterzukommen. Mut wird belohnt. Demut, Vertrauen und Durchhalten auch. Und niemand weiß, was dann noch alles möglich ist. Aber ich bin voller Vorfreude und werde es beobachten und beschreiben. Und wenn ich dann aus Südafrika zurückkehre, mit einem Herzen voller Elefanten, Sandresten in der Erinnerung und Sommerluft in der Seele und einem wieder ein bisschen gesünderen Körper, werd ich genau damit weitermachen. Denn Aufgeben ist ausgeschlossen.