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Wie ist es, wenn man 1.088 einzelne Tage auf die ungewisse Genesung einer unbekannten Erkrankung wartet? Wenn man 3 Jahre Long-Covid durchlebt, von CFS, PEM/Crash und Pacing verschluckt wird – um dann mit gleicher Wucht wieder ausgespuckt zu werden? Das ist mir passiert. Und dies ist mein erster Versuch, das Unbegreifliche zu beschreiben.

Frenetischer Jubel

Als ich am 01.01.25 gegen 01:15 mit dem Laptop auf dem Schoß in meinen weichen Ohrensessel sinke, erlebe ich einen historischen Moment. Denn das, was geschieht, wird in die Geschichtsbücher eingehen. Wenn auch nur in meine. Während das Silvester-Geböller draußen noch tobt, hallt in mir etwas ganz anderes nach: dieser stumme Paukenschlag, mit dem nicht nur mein 2024 zu Ende ging, sondern auch – und irgendwie recht plötzlich – meine dreijährige Long-Covid-Erkrankung.

Was so vielen Betroffenen immer noch nicht vergönnt ist, kann ich nun endlich hier aufschreiben. Dabei müsste ich es auf alle Litfasssäulen malen, an jede Ampel kleben und in Neon auf die Straßen sprühen. Das wäre angemessener. In meiner Fantasie rufe ich es daher stattdessen lauthals in unsere Galaxie und schicke eine frenetische Jubelumarmung um den Planeten, während ich die ganze Nacht auf High Heels über meinen Dielenfußboden rocke. Hört und staunt:

„Ich habe mich von einer schweren, langwierigen Form von Long-Covid komplett erholt, obwohl die Chancen dafür den bisherigen Erkenntnissen zufolge recht schlecht standen. Nämlich nur im einstelligen Prozentbereich. Bääääm! Hiphip-Hurrrrrrahhhh! Und Soli Deo Gloria!“

Der ominöse Schalter

Als ich Ende des ersten Jahres in 2022 zumindest zeitweise in der Lage war, an einer Online-Selbsthilfegruppe für Long-Covid teilzunehmen, um besser zu verstehen, was mit mir passiert und ob das andere auch so erleben, haben bereits Genesene dort immer wieder berichtet: Nach ein oder eineinhalb Jahren gebe es da einen Schalter, der sich nach der zermürbenden und typischen Auf-und-Ab-Stagnation mit extrem langen Liegezeiten der Erkrankung einfach plötzlich umlegt – und alles wäre wie vorher.

Aber bei mir wurden es eineinhalb Jahre, 2 Jahre und dann zweieinhalb Jahre – und natürlich dachte ich zwischendrin: „Entschuldigung, aber das stimmt bei mir so nicht.“ Doch ich sollte am Ende falsch liegen. Wuaaah, es ist so unfassbar großartig, diesen Satz schreiben zu können. Darf ich gleich nochmal? Wunderbar, danke:

Doch ich sollte am Ende falsch liegen.

Dabei ist es mir nicht möglich, einen einzigen Schalter-Moment dafür auszumachen. Es war eher wie eine Schalterbatterie, die umgelegt wurde, wie eine Kaskade an endgültigen Verwandlungen der vielen Symptomreste in den ausgeheilten Zustand hinein, die plötzlich über mir hereinbrachen und mich im Laufe von 3-4 Tagen in einen stummen Erlösungstaumel mit der Sicherheit versetzten: Ich bin wieder völlig gesund! Es passierte Anfang November. Fast auf den Tag 3 Jahre nach der Infektion.

Alles wie … früher

Ich räumte in der Spülmaschine rum, schaute auf die Uhr und wusste, dass sie stehen geblieben sein musste: 20.32 Uhr? Das ist ja nun völliger Unsinn. Meine Kraft wurde zwar endlich seit einem Jahr spürbar mehr, aber sie reichte selbst für leichte Tätigkeiten nie bis nach 17:30 Uhr. Also ging ich ins Schlafzimmer, um da auf die Uhr zu gucken – aber auch dort: 20.32 Uhr. Hatte ich tatsächlich die Zeit vergessen, weil alles so selbstverständlich ging? Wie konnte das denn sein? Ich hatte so spät noch etwas Energie übrig! Das war ja wie … früher!

Beim Lebensmitteleinkauf stand ich in der Schlage und freute mich wieder mal, dass ich so gar kein Notfall-Kissen für den Absturz ins Energie-Minus mehr brauchte. Dann bekam ich aber trotzdem einen Schreck, weil ich meine Wasserflasche vergessen hatte. Immer noch ein fataler Fehler, der meine Kraft für den Rest des Tages zuverlässig ruinieren konnte.

Ich überschlug schnell die Zeit fürs Anstehen und die Rückfahrt zum heimischen Wasserhahn. Das könnte richtig knapp werden – wurde es aber nicht. Ich kam zu Hause an, trank was und konnte mit dem Tag weitermachen, anstatt rumzuliegen. Ich fühlte mich völlig in Ordnung. Wie das normalerweise so eingerichtet ist, wenn man etwas getrunken hat. What?

Dann stellte ich fest: Seit ein paar Tagen war Schlaf nochmal zu beständigeren Zeiten möglich und vor allem: erholsam. Auch die völlig verschobene Hunger-Satt-Dynamik war wie auf Befehl zurechtgerückt – als ich gerade auf dem Weg in den Keller war. In denselben Keller, in dem ich zu Beginn der Erkrankung an der Waschmaschine wortwörtlich liegen geblieben war. Und die kühlen Temperaturen fand ich zwar immer noch doof, aber einmal kalte Füße schickten mich nicht mehr in den Crash. Ich konnte es kaum glauben, aber: Alle Systeme des Körper waren wieder auf Spur.

Und was war mit der letzten Bastion – meiner kognitiven Leistungsfähigkeit an allem, was irgendwie digital war: Würde ich meine selbständige Arbeit wieder tun können, ohne mich wie ein Fass mit Leck zu fühlen – ausgelaugt, ausgesogen und mit Denklähmung? Würden Emails einfach wieder leicht gehen ohne aufwendige Krafteinsparung im Vorfeld? Würde ich die Ideen endlich umsetzen können, ohne vor Anstrengung Kopfschmerzen, einsackende Knie und einen dröhnenden Herzschlag zu bekommen? Könnte ich eine Aufgabe wieder einfach beenden, als wäre es das Normalste der Welt? Ich kürze es ab. Antwort: ja, ja, ja – und ja.

Das war der letzte Sargnagel für mein Long-Covid – auch wenn mein neues altes Körpergefühl den gar nicht gebraucht hätte. Denn das war so klar und eindeutig, wie wenn man weiß, dass man eine Grippe gut auskuriert hat und wieder fit ist. Hat halt nur 3 Jahre gedauert … Aber jetzt war mein Energiehaushalt wieder völlig hergestellt. Kraftspeicher, Filter, Toleranzpuffer – überall: Check.

Gefangenschaft beendet

Das fühlt sich an wie eine Entlassung aus der Haft, die ich in einem fremden, kaputten Körper abgesessen habe. Als wäre mein Stoffwechsel mit dem Abbau der Sedierungsdosis für einen Elefanten jetzt fertig. Als würde ich endlich wieder auf einem aufgepumpten Rad fahren können, nachdem ich sehr, sehr lange mit doppeltem Platten in der Ecke rumlag. All die winzigen, wunderbaren, weltverändernden Selbstverständlichkeiten sind zurück, die die unsichtbare Freiheit des Alltags bedeuten. Jetzt kann das Leben für mich endlich wieder funktionieren.

Einig mit der Forschung

Als in diesen Tagen zeitgleich die Einladung zum 3. Long-Covid-Kongress eintrudelt, bei dem Wissenschaft und Forschung die neusten Erkenntnisse miteinander und mit interessierten Betroffenen teilen, weiß ich sofort, bei welchem Thema ich online dabei sein will: Verständnis und Abgrenzung von Fatigue, ME/CFS, Belastungsintoleranz und PEM.

Für Nicht-Eingeweihte: Die lebensraubende krankhafte Erschöpfung ist das Symptom, das in unterschiedlicher Schwere fast alle Long-Covid-Betroffene miteinander verbindet. Gegen sie ist bisher kein Kraut gewachsen, da sie nicht wegtrainiert werden kann, sondern sich dadurch nur verschlimmert. Und mich hat von Tag 1 an die Frage umgetrieben, was da in meinem Körper genau passiert, sodass ich mich fühle, als wäre ich lebendig tot.

Der einhellige Tenor der Expert:innen: Sie seien immer noch im Verstehensprozess, es gebe noch keine gesicherten Erklärungen, nur Ansätze, aber dieses Ding sei die größte Herausforderung ihrer Forscherkarriere. Ja, weiß ich von den letzten beiden Kongressen. Leider.

Dr. Claudia Ellert, selbst Betroffene und Verbündete des größten Informationsorgans „LongCOVID Deutschland“ inklusive Facebook-Selbsthilfegruppe, hatte schon auf dem 1. Kongress 2022 die Fragen ihrer Zunft mal eindrücklich zusammengestellt:

Dann aber reißt mich ein Satz eines Professor fast vom Sofa, als er seine aktuellen Forschungsergebnisse präsentiert: „ … und das deutet darauf hin, dass sich die Mitochondrien [die Kraftwerke in jeder Zelle unseres Körpers, Anm.d.A.] nicht nur abschalten wie angenommen, sondern sich stattdessen in Energiesauger des Körpers verwandeln. Das ist natürlich ein katastrophaler Mechanismus.“

Ich sitze kerzengerade mit zappelnden Beinen vor dem Bildschirm und rufe ihm zu: „Wahnsinn, ich glaub, das ist es! Bitte, bitte, bleiben Sie da bloß dran.“ Als ob er mich hören könnte! Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre mit meinem Fan-Equipment der letzten WM angerückt, um ihn anzufeuern. Was er sagt, könnte erklären, warum manche im Rollstuhl landen, ohne gelähmt zu sein. Und wieso so viele mit Zustandsverschlechterungen zu kämpfen haben. Ich tanke jedenfalls eine Menge Hoffnung für die gesamte Long-Covid-Sphäre – und dann schließt er mit den Worten:

„Noch was Ermutigendes bei aller Schwierigkeit: Unsere Zahlen zeigen, dass es doch auch immer wieder Fälle gibt, bei denen sich die Betroffenen ganz plötzlich nach 3 Jahren vollständig erholen.“

In dem Moment geht ein Ruck durch mein Inneres, als hätte jemand die Rotation der Welt angehalten. Dagegen gibt es für mich kein Halten mehr. Ich springe auf, hüpfe herum wie ein Flummi, melde mich beidarmig mit Dauerschnipsen wie eine übereifrige Erstklässlerin und singe: „Jaaahahaaaa, das bin ich, ich, ich!“ Und: „Kommt, Long-Covidler aller Länder, lasst uns die Genesungsstatistik weiter ruinieren. Und zwar nach ooooben!“

Seit diesen für mich monumentalen Tagen staune ich mal still vor mich hin, mal falle ich auf meine Knie. Dann liege ich mit einem großen Lächeln in der Nacht oder tanze mit dem Staubsauger in der Hand über den Balkon, einfach nur weil es möglich ist. Dass alles wieder ohne Einschränkungen geht, wird mehrere Runden des Feiern und Freuens in 2025 nötig machen. Ach, was sage ich: in den nächsten 3 Jahren! Es ist einfach der helle Wahnsinn. So wie am Anfang. Nur jetzt in schön.

Der Blick zurück

Was für ein gigantisches Glück das ist, lässt sich vielleicht nur dann annähernd nachvollziehen, wenn man ein ungefähres Bild davon hat, was diese Erkrankung bedeuten kann. Und obwohl ich das bereits während der letzten 3 Jahre in 4 Blogartikeln (Teil 1: Chronik der Auflösung, die anderen Teile sind am Ende verlinkt) protokolliert habe, versuche ich es jetzt nochmal zusammenzufassen.

Und warum?

Damit ich es selbst besser glauben und nachlesen kann. Damit andere Betroffene, die keine Stimme haben, gehört werden und Hoffnung bekommen. Und damit die, die zusehen konnten oder mussten, sich mitfreuen können – und damit die, die bisher lieber wegsehen wollten, ihren Informationsrückstand aufholen können.

Schließlich ist Long-Covid nicht bloß ein privates Schicksal einzelner. Es macht zu viele Menschen zu lange arbeitsunfähig und ist damit nicht nur wirtschaftlich ein gesellschaftliches Problem. Außerdem ist das Virus gekommen, um zu bleiben. Damit müssen wir alle umgehen lernen.

Und leider gibt es auch immer noch zu viele ärztliche Fachkräfte (ein dreifaches Hoch auf meine wunderbare Hausärztin, die nie dazugehörte), die das alles für ein psychisches Phänomen halten. Das führt dazu, dass sie häufig die notwendigen Gutachten verweigern, die den Betroffenen bei der finanziellen Absicherung helfen könnten. Damit ist so eine Haltung nicht nur faktisch falsch, sondern fahrlässig, weil für viele finanziell verheerend. Ganz abgesehen vom demütigenden Ärger, der der Genesung schadet. Dass es möglich ist, wegen Long-Covid psychisch sehr belastet zu sein, ist gar kein Wunder bei dem Wahnsinn. Aber niemand sollte Ursache und Wirkung vertauschen.

Insofern gehört das Phänomen Long-Covid meiner Ansicht nach zur neuen Allgemeinbildung, und ungefähr Bescheid zu wissen zum guten Ton. Also nehme ich auch hier meine Aufgabe als private Bildungseinrichtung gerne wahr …

 

Im Zeitraffer

Wem trotz meiner umwerfenden Argumente im vorigen Absatz die folgende Zeitreise zu viel zum Lesen ist oder wer sie schon kennt, kann das Ganze überspringen und sich hier in den nächsten Absatz „Was (mir) geholfen hat“ wieder einklinken.

Ich war in den letzten drei Jahren in unterschiedlichen Stadien zu keinem Zeitpunkt in der Lage, einen normalen Alltag zu leben. „Mein“ Long-Covid (die Erkrankung ist mit und ohne ME/CFS, POTS und Co. so komplex, dass kaum ein Verlauf dem anderen gleicht und daher ein individuelles Etikett nötig ist) verlief in drei Phasen:

  • 6 Monate Bettlägerigkeit
  • 1 1/2 Jahre quälendes Vor und wieder Zurück mit Grippegefühl und PEM
  • 1 Jahr der stetigen Verbesserung mit wundersamem Schalter am Ende

Phase 1: Bettlägerig bis zur Auflösung

Ganz normale Dinge wie duschen, stehen, sitzen, kochen, anziehen, einkaufen, denken und länger sprechen waren anfangs gar nicht möglich. Oder nur eine Sache davon mit nachfolgendem Crash.

Mir ist in dieser Zeit unter anderem mein Auto verschimmelt, ich habe erstmalig im Leben Mahnungen erhalten, weil ich auch nicht vom Bett aus Online-Überweisungen tätigen konnte. In dieser Zeit habe ich angefangen meine Existenz aufzuschreiben (Chronik der Auflösung), um mich mental gesund zu halten und selbst zu vergewissern, dass ich noch da bin. Zuerst drei Worte am Tag, später ganze Sätze. Meine sporadischer Zeitvertreib im Siechtum.

„Wie hast du dich eigentlich ernährt in dieser Zeit?“, fragte mich neulich nochmal jemand. Richtige Frage. In so einem Zustand muss ein längerfristiger Plan her, wie man nicht verhungert, wenn man alleine wohnt. Viele ziehen zu den Eltern zurück, wenn das geht. Ich hatte Familie vor Ort, die mir monatelang Essen vor die Tür gestellt hat. Pointiert könnte man sagen: Man wird zum Pflegefall.

⚡ Meine größte Herausforderung: nach dem Verlust des bisherigen Lebens die Reste umorganisieren.

✋ Meine einzige Aufgabe: überleben.

Phase 2: Quälendes Vor und Zurück

Häufig verliert man bei Long-Covid häufig all das, was man liebt, weil das Leben unter dem Diktat von Crash und Pacing nahezu auf ein Nichts zusammenschrumpft. Freunde treffen, unterhalten, bewegen, lesen – bei allem: ERROR.

Und je länger das Ganze dauert, desto mehr verdeckte Folge-Dramen können aufschlagen: der Verlust der Arbeit durch die lange Ausfallzeit und damit der gewohnte Verdienst, die sinnstiftende Aufgabe, die Hobbies – und wenn es ganz doof läuft, auch Freundschaften oder Beziehungen. Nicht jeder Mensch kann oder will das aushalten.

Das alles kommt zur eigentlichen Herausforderung, gegen eine unbekannte Krankheit ohne Behandlungsplan mit all der Angst und Unsicherheit irgendwie anzugehen, noch dazu. Und das ist ganz schön viel zusätzlicher emotionaler Schmerz, während man im freien Fall ist. Brrr.

Ich habe in dieser eineinhalbjährigen Phase eigentlich nur versucht, täglich meine Hoffnung zu verteidigen und anfangs in einer, später dann in zwei-drei nutzbaren Stunden am Tag das Leben irgendwie zu meistern. Oft erfolglos übrigens. Und dabei alles wegzulassen, was einen Crash provozieren könnte. D.h.: nur versuchen, selbständig einzukaufen, zu kochen, zu essen. Ende. Dann war es ein guter Tag. Einen Termin pro Woche, vielleicht sogar zwei. Aber an richtiges Arbeiten war überhaupt nicht zu denken.

⚡ Meine größter Herausforderung: einen Tag nach dem anderen nehmen, nicht vorausdenken, weil da die blanke Angst wartet.

✋ Meine einzige Aufgabe: innerlich nicht verfaulen, verrückt werden oder aufgeben. Auf gar keinen Fall.

Phase 3: Der langsame Aufstieg

Nachdem Anfang 2024 während der spektakulären Rettungsaktion für meine ganzheitliche Gesundheit unter der Sonne Südafrikas (die mein wundervolles Netzwerk finanziert hat: Der Beginn der Wiedergutmachung) alle Gelenk- und Muskelschmerzen ausheilten und ich deutlich mehr Stunden pro Tag wach und aktiv sein konnte, setzte sich eine stetige Verbesserung meines Zustandes fort. Alles noch im Schneckentempo, aber endlich beständig auswärts – und vor allem konnte ich wieder länger konzentriert lesen und denken.

So weit so wunderbar, aber als Selbständige immer noch ein völlig verdienstunfähiger Zustand. Also startete ich im Mai meine eigenen Recherchen zur Frage: „Und warum dauert das bei mir eigentlich so lange?“ Ich hatte so viele Fragen an meinen Körper und konnte jetzt erst und endlich nach Antworten suchen.

Die strikte Taktung von Tätigkeiten und Pausen – Pacing – war immer noch der ständige Begleiter, doch das Korsett lockerte sich. Es war in den bekannten Grenzen mehr möglich. Meine Tätigkeiten wurden in derselben Zeitspanne komplexer oder ich konnte eine Sache länger tun. Sogar ein Fest zum 10jährigen Jubiläum meines LernRAUM war möglich – mit aufwändiger, monatelanger Planung und viel, viel – sagte ich viel? – Hilfe. Meine Lebensqualität stieg aber weiter und mit ihr auch meine Hoffnung, dass ich doch irgendwann wieder in der Lage sein würde, meine Arbeit aufzunehmen.

⚡ Meine größte Herausforderung: meine Leistungsfähigkeit nicht pushen, sondern dem Tempo meines Körper vertrauen – trotz großer Nervosität angesichts meiner ökonomischen Zukunft.

✋ Meine einzige Aufgabe: im Reha-Modus gesund werden

Was mir geholfen hat

Nun werde ich immer wieder gefragt, wie ich das alles so lange mit der ominipräsenten Angst, dass das möglichweise so bleibt, aushalten konnte – und was am Ende geholfen hat. Und außer wiederholt auf mein vierteiliges Long-Covid-Protokoll zu verweisen, ist meine Antwort:

Ich habe das nicht ausgehalten. Das war nicht auszuhalten – und ich bin zwischendurch immer mal zusammengebrochen. Aber es gab ein paar Sachen, die mir geholfen haben, nicht aufzugeben, und die meinen Körper unterstützt haben.

[Aber Achtung: Die folgende Liste ist ganz sicher kein Rezept für die Long-Covid-Genesung anderer. Ich habe das Rätsel nicht gelöst und ich habe nicht mal den Eindruck, dass es irgendeine bestimmte Sache war, die den Durchbruch brachte. Vielleicht konnte ich genesen, weil ich die für mich richtigen Weichen gestellt habe. Aber das weiß ich nicht. Daher ist diese Liste als Inspiration gedacht, auch das für sich Passende zu suchen und nicht aufzugeben. Denn Hoffnung aufgeben – das ist einfach keine hilfreiche Alternative.]

👉 Zeithorizont verkleinern: die Gedanken nicht ins Morgen oder in die Zukunft reisen lassen, sondern immer nur diesen Tag überstehen, notfalls Stunde für Stunde. Und nichts anderes versuchen, als einfach zu überleben. Das ist Aufgabe genug.

👉 Sich einen „Nervenzusammenbruch“ leisten: Wenn alles zu viel ist, genau das fühlen, durchleben und nicht verdrängen. Oft sorgt ein ordentlicher Heulanfall eben doch für Entlastung – wenn auch nur bis zum nächsten. Aber dann hat man schon wieder ein paar Stunden oder einen Tag geschafft. Am besten in Gegenwart eines lieben Menschen.

👉 die Angst annehmen: ähnlich wie oben – der Weg aus der Angst heraus ist der durch sie hindurch. Unschön, aber wahr. Unbedingt mit einer vertrauenswürdigen (und sensiblen) Person drüber reden, anstatt damit alleine zu bleiben. Ich habe mal hier ein paar Ideen zum Umgang mit Angst an sich gesammelt –  auch wenn der konkrete Fall sicher auch immer eine konkrete Lösung braucht …

👉 minimale Verbesserungen als Versprechen werten: Wenn sich im (langfristigen) Rückblick irgendetwas tut, gibt es eigentlich keinen Grund anzunehmen, dass nicht noch mehr passieren kann. Wenn alles ungewiss ist, heißt das eben auch: Gutes ist möglich!

👉 Innerlich nicht verfaulen: Extremerfahrungen wie Long-Covid bergen die Gefahr der Traumatisierung. Daher gut in sich hineinhorchen, wonach die Seele ruft und dafür sorgen, dass das passiert. Und wenn es eine Auszeit in Südafrika ist. Hilfe suchen. Es ist oft mehr möglich, als man denkt.

👉 gesundheitliche Verantwortung übernehmen: kein Experte checkt Long-Covid bisher vollständig und nur wer betroffen ist, weiß am ehesten, was das wirklich bedeutet und was der eigene Körper womöglich braucht, wenn man seinem Bauchgefühl vertraut. Ich habe erst Mitte 2024 anfangen können, als mein Kopf wieder länger am Stück funktionierte, eine eigene Anamnese meiner bisherigen „Krankheitsbiografie“ zu machen – und bin darüber mit viel Recherche z.B. zur Nährstoffexpertin für mich geworden, um meinem Körper bei der Genesung noch mehr helfen zu können.

👉 Hilfsmittel nutzen: Tatsächlich haben mehrere Mediziner:innen auf dem letzten Long-Covid-Kongress nun empfohlen, was viele von uns gegen die Fatigue schon lange tun – Magnesium, Vit D3, Vit B12, Vit C, Zink, Omega 3 und Coenzym Q10 für den Zellstoffwechsel supplementieren, am besten mit einem Sachverständigen die Dosierung klären. Ich hab noch diverse andere Spiegel in ärztlicher Absprache angehoben (die nun deutlich über der Mindest-Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung liegen) sowie eine Aminosäurenkur gemacht, deren L-Tyrosin für mein morgendliches Energieloch ein echter Game-Changer war. Aber vielleicht schlug das auch nur an, weil ich meinen Körper gut vorbereitet hatte? Was auch immer man über seine Gesundheit und bisherigen Lebensstil herauszufinden kann, ist ein lohnender Job – wenn es die Kraft denn zulässt. Frische Luft und gute Ernährung klingen banal, sind aber im desolaten Zustand lebenswichtig.

👉 Support-System einrichten: gezielt mit den Menschen oder Dingen in Verbindung sein, die einem Kraft geben und der Seele gut tun. Sauger, Unsensible oder Nervensägen sowie alles, was Energie raubt, freundlich aber bestimmt meiden, ohne sich schuldig zu fühlen. Dafür ist grad nicht die Zeit. Long-Covid ist ein Marathon. Kraftsparen und Genesung haben Prio; wer das nicht versteht, ist eh keine Hilfe.

👉 Den Spieß umdrehen: Long-Covid zieht einem alles Leben raus – was kann ich aus dieser Erkrankung ziehen? Vielleicht gibt es Dinge, die ich jetzt klarer sehen kann als vorher? Oder etwas Neues wird mir wichtig(er)? Die bewusste Suche nach Chancen im Chaos kann Hoffnung und Freude entfalten, wo man weder das eine noch das andere für möglich hält.

👉 Bewusst das Gute suchen: So furchtbar die Erkrankung war, so ist bei mir in diesen Jahren auch viel Gutes passiert. Irgendwie parallel. Oft ohne besonderes Zutun meinerseits. Das wahrzunehmen, ist eine sehr kostbare Erfahrung. Auch wenn ich die Kontrolle verliere und zum Nichtstun gezwungen bin, kann immer noch etwas Gutes entstehen. Als würden wohlwollende Mächte unterm Radar etwas orchestrieren – was mich zum Schlusspunkt bringt.

👉 An etwas Größeres glauben: Wir alle kennen den sogenannten „schönen Zufall“, der einen ahnungslos überfällt und unverdient beglückt. Dafür gibt es natürlich unterschiedliche Erklärungsmodelle. Aber wenn man den existenziellen Kontrollverlust und freien Fall erlebt, dann ist man schlicht darauf angewiesen, dass eine andere Kraft als man selbst eingreift. Und dass man darauf vertrauen könnte, ist doch ein sehr, sehr Mut machender Gedanke, finde ich.

Vom (un)wahrscheinlichen Guten

Mir sind in diesen Jahren diese uralten poetischen Worte aus der Bibel ans Herz gewachsen, weil sie das Hadern und Fragen der Menschheit im Leid seit Jahrtausenden widerspiegeln – und mir geholfen haben, die Hoffnung immer wieder zu suchen.

[…] Will you work your wonders for the dead?

Will the shades stand and praise you?

Will your love be told in the grave?

As for me, Lord, i call to you for help. […]

– aus Psalm 88

Mir erscheint es tatsächlich so, als wäre da heimlich, still und langsam im Verborgenen etwas unglaublich Schönes passiert, das nicht meinem Einfluss unterlag. Als hätte der Körper es dann am Ende doch selbst geschafft. Oder als hätte mir jemand ein unwahrscheinlich großes Geschenk gemacht.

Das ist eine Glaubensfrage. Ich weiß nur, dass das alles ohne den Anker meines altmodischen Gottvertrauens noch viel, viel schwieriger zu durchleben gewesen wäre. Ich bin unfassbar dankbar, irgendwie erlösungstrunken, dass das augenscheinlich Unmögliche nun hier für mich wahr geworden ist.

Und so ist mein 2024 geendet, wie es anfing – mit einer unfassbar schönen Erfahrung: Geschenk Südafrika zu Beginn, Geschenk Genesung am Ende. Und dazwischen alle meinen Tiefen, eingebettet in Gnade.

Und jetzt!?

Müsste damit für 2025 nicht alles wunderbar fantastisch aussehen? Jeder Tag ein Fest? Nun. Wie sich das Leben nach Long-Covid anlässt und gestalten lässt, dazu gäbe es noch einiges zu erzählen. Was ich im nächsten Blogartikel auch tun werde, an dem ich gerade sitze.

Hier, auf einer warmen Insel mitten im Atlantik, wo ich mir im geografischen wie jahreszeitlichen Abstand den inneren Adlerblick gebe, um alles Gewesene zu verabschieden und zu verarbeiten und die Weichen für das zu stellen, was nach so einer Geschichte als Fortsetzung kommen kann. Oder kommen sollte. Oder auch muss.

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